Vorwort


Von Jahr zu Jahr scheint deutlicher zu werden: Die Klage über das völlige Darniederliegen der Lyrik ist wenig mehr als ein liebgewordener Topos. Die Wirklichkeit zeigt eher das Gegenteil: In etlichen kleinen und größeren Nischen blüht auf vielfältige Weise Poesie.

Was steckt dahinter? Meldet sich hier der Überdruss an der Flut der bewegten und unbewegten Bilder nach dem vielzitierten iconic turn ?
Oder anders: Was treibt heutige Leser/Hörer dazu, sich Gedichten, also Texten auszusetzen, die weitgehend kontextlos sind, deren Referenz also oft im Dunkeln bleibt? Ist es die rituelle Feier der Vereinsamung, des Herausgerissenseins aus sozialen Kontexten, die nur noch als fingierte, behauptete existieren?

In dem Band „Schnee vom Balkon – Briefe 1958-1994“, der im letzten Jahr bei Gingko-Press in Hamburg erschienen ist, heißt es bei Charles Bukowski an einer Stelle:

„Ich habe gerade die unsterbliche Lyrik der Jahrtausende gelesen und mich gelangweilt. Ich weiß nicht, woran es liegt; vielleicht am Wetter. Aber ich spüre eine Menge Angeberei und affiges Getänzel: Seht mal her, ich schreibe ein Gedicht ! Man muss die ganze Poesie vergessen; wir müssen das Rohmaterial hernehmen und die Farbe spritzen lassen.“

Bei aller bukowskischen Maßlosigkeit des Urteils: Kraftvoll klingt es allemal!
Seien wir also gespannt, wie die eingeladenen Autorinnen und Autoren das Rohmaterial – die Sprache – hernehmen und die Farbe spritzen lassen.


Franz-Paul Hammling