Yoko Tawada & Aki Takase


Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo/Japan geboren. Seit 1982 lebt sie in Hamburg. Sie schreibt auf Deutsch und auf Japanisch.
Literatpreis 1993, Adelbert-von-Chamisso-Preis 1996. Tanizaki-Preis 2003. Goethe-Medaille 2005. Zu letzt
erschien: “Das nackte Auge” (Tübingen, 2004)
www.tawada.com



Aki Takase, geb in Japan, begann bereits mit drei Jahren Klavier zu spielen. 1981 beim Berliner Jazzfest feierte Aki Takase dann ihren ersten großen Erfolg in Deutschland. Für ihre sehr erfolgreichen Projekte u.a. mit Künstlern wie Maria Joao oder Rudi Mahall erhielt sie 1999 den Kritikerpreis der Berliner Zeitung, im Jahr 2002 den SWR Jazzpreis. Ausserdem erhielt sie Jahrespreis 2004 der Deutschen Schallplattenkritik.

         

Als ich nach Europa kam, hatte ich einige brennenden Fragen in meiner Reisetasche:
Werde ich zu einem anderen Menschen, wenn ich eine andere Sprache spreche?
Sieht ein Seepferdchen anders aus, wenn es nicht mehr "tatsu-no-otoshigo"(das
verlorene Kind des Drachens) heißt, sondern das kleine Pferd aus der See?
Werde ich nicht mehr den Reis kochen, sondern gleich roh essen, wenn es nur
ein Wort "Reis" für den gekochten Reis (gohan) und den rohen Reis (kome) gibt?
Muß ich immer eine dicke Suppe kochen, wenn ich nicht mehr "Suppe trinken",
sondern "Suppe essen" sagen soll?
Habe ich doppelt so viel Zeit nach der Arbeit, wenn es für den Zeitraum zwei
Wörter - "Abend" und "Nacht" gibt? Am "Abend" kann man ins Theater gehen und
in der "Nacht" schlafen. Im Japanischen gibt es nur ein Wort "yoru" für den
Abend und die Nacht, deshalb schläft man zu kurz.
Werde ich mit einem größeren Selbstwertgefühl studieren, wenn eine
Seminararbeit auch als "Arbeit" bezeichnet wird wie alle andere Arbeiten in der
Gesellschaft? Kann man dann mit gutem Gewissen jahrelang an der Arbeit schreiben?
Im Japanischen ist leider alles, was zum Lernen (benkyo) gehört, keine Arbeit
(shigoto).
Nun lebe ich schon seit zwanzig Jahren in Hamburg. "Bist du zu einem anderen
Menschen geworden?" fragt man mich. "Bist du ein anderer Mensch, wenn du
Deutsch sprichst?" fragt man mich. Diese Fragen lassen sich nicht so leicht
beantworten. Wenn man beim Erlernen einer Sprache eine zusätzliche Persönlichkeit
gewinnen sollte, müßte einer, der fünf Sprachen spricht, fünf Persönlichkeiten
besitzen. Sollte dieser Mensch aussehen wie ein Jahrmarkt mit fünf verschiedenen
folkloristischen Verkaufsbuden? Ich habe keine einzige Bude. Eher ähnele ich
einem Netz. Ein Netz verdichtet seine Struktur, wenn neue Züge aufgenommen
werden. Dadurch entsteht ein neues Muster. Es gibt immer mehr Knoten,
Unregelmäßigkeiten der dichten und lockeren Stellen, unvollendete Ecken, Zipfel, Löcher
oder Überlagerungen. Dieses Netz, mit dem man winzige Planktone fangen kann,
bezeichne ich als mehrsprachiges Netz.

 

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